Neue Wege in der Materialversorgung
Es ist ein unspektakulärer Gegenstand, der im Siemens-Elektronikwerk Fürth den Übergang zu Industrie 4.0 symbolisiert: schwarze Materialboxen. Zu Tausenden werden sie im Werk für nahezu den gesamten Materialtransport verwendet. In den Kisten werden Bauteile vom Lager zu den Montageplätzen gebracht, Fertigprodukte zum Versand transportiert, und auch der sogenannte „Werkspendelverkehr“ mit anderen Siemens-Standorten bedient sich dieser schwarzen Behälter. Über 2.000 Stück zirkulieren allein innerhalb des Werks.
Low volume/High Mix-Produktion
Fürth hat im Verbund der Werke von Siemens Digital Industries einen besonderen Stellenwert; Werkleiter Lorenz Rappl bezeichnet die Produktion als „Low volume/High Mix“-Fertigung. Geringe Stückzahlen je Typ also, aber dafür eine hohe Produktvielfalt – von hochwertigen elektronischen Komponenten für den industriellen Einsatz bis hin zu komplexen Systemen mit hohem Engineering-Anteil. Im Vergleich zur Großserienfertigung verschieben sich dadurch einige Aspekte. Insbesondere spielen die Sekundärprozesse wie Materialtransport oder Rüstzeiten eine deutlich größere Rolle, als wenn tagelang das gleiche Produkt übers Band laufen würde. Deutlich höhere Flexibilität zu vergleichbaren Kosten, das ist die Formel, an der das Werk sich ausrichtet. Letztlich geht es um die Umkehr des früheren Industrie 3.0-Paradigmas, dass Skaleneffekte durch eine hohe Ausbringungsmenge zu erzielen suchte. Möglichst oft das gleiche Teil fertigen und damit die Stückkosten senken, so lautete die Devise.
Doch die Anforderungen aus den Märkten haben sich deutlich verändert. Die zunehmende Varianz der Produkte entsteht aus immer spezifischeren Anforderungen der Kunden. War früher das „Eines für Alles“-Produkt in gewissen Grenzen akzeptiert, braucht es heute zugeschnittene Lösungen, die auch im Blick auf den Preis für die jeweilige Branche oder Anwendung optimiert sind. Die klassische Großserien-Fertigung kann diese Anforderungen nicht beantworten.
Industrie 4.0-Fertigung in Fürth
Schwarze Behälter statt verketteter Fördertechnik, hochqualifizierte Facharbeiter statt unflexibler Automatisierung, dynamische selbstorganisierende Strukturen statt vorgeplanter Takte: alles Eigenschaften einer modernen Industrie 4.0-Fertigung wie die in Fürth. An den verschiedenen Montageplätzen können eine Vielzahl von Produkten gefertigt werden. Der Materialfluss erfolgt dynamisch, indem die Materialien per Routenzug zum Verteilbahnhof und von dort per Handwagen zum Arbeitsplatz gelangen – wenn es sein muss, kreuz und quer durch die Halle. Künftig werden autonome Transportfahrzeuge (Automated Guided Vehicle, AGV) diese Aufgabe übernehmen. Und eine Vollautomatisierung findet sich nur bei einzelnen, spezifischen Arbeitsschritten – zum Beispiel bei der SMD-Bestückung von Leiterplatten.
Der Ablauf eines typischen Fertigungsauftrags beginnt im zentralen Materiallager. Dort werden die Komponenten für ein Fertigungslos in die Behälter kommissioniert und als Stapel in den internen Versand gegeben. Ein Routenzug transportiert diese Behälterstapel zu Verteilstationen im Werk, den sogenannten Bahnhöfen. Der Facharbeiter einer Montagezelle bekommt den Fertigungsauftrag in seinem digitalen Shop-Floor-Report angezeigt und holt sich die Behälterstapel an seinen Arbeitsplatz. Nach Abschluss des Auftrags werden die fertigen Erzeugnisse wieder vom Routenzug abgeholt und in den Versand gebracht.
Welche Kiste gehört zu welchem Auftrag?
Aber wie so oft ergeben sich durch die Lösung einer Problemstellung weitere Herausforderung. Die Hantierung mit den schwarzen Kisten erwies sich in der Praxis als mühevoll bzw. fehleranfällig. So müssen die Mitarbeiter den richtigen Kistenstapel anhand der Begleitpapiere identifizieren, denn „auf einen Blick“ lassen sich die Behälter kaum auseinanderhalten. Auch kann es vorkommen, dass ein Auftrag aus zwei Stapeln besteht, was der Mitarbeiter aber womöglich übersieht. Die Konsequenz: Ein erneuter Weg zum Bahnhof, der wertvolle Minuten kosten. Und dann sind sich die Fürther Werksplaner gar nicht so sicher, ob die festgelegten Routen optimal sind.
Hier hilft nun eine neue Technologie, die Siemens seit 2018 im Portfolio hat: Echtzeit-Ortungssystem per Funk (Real-Time Locating System, RTLS). Simatic RTLS besteht aus drei Systemkomponenten. An den beweglichen Objekten – Produktionsmitteln, Waren, Transportsystemen oder den eigentlichen Erzeugnissen – werden Transponder wie der Simatic RTLS4030T befestigt, die der Positionserkennung dienen und über eine einzigartige Identifikationsnummer verfügen. Über ein drahtloses Netz aus RTLS-Gateways werden diese Transponder im kurzen Zeitabständen erfasst und die Position in Form von zwei- oder dreidimensionalen Koordinaten ermittelt. Die Kugelcharakteristik der integrierten Antenne verlangt bei Simatic RTLS eine möglichst freie Anbringung der Gateways, um eine optimale Ausleuchtung zu garantieren.
Die Gateways sind über ein separates Industrial-Ethernet-Netzwerk miteinander verknüpft, so dass Produktionsnetz, Kommunikationsnetz (zum Beispiel E-Mail) und RTLS-Netz vollständig getrennt sind. Die Gateways werden über Power-over-Ethernet (PoE) mit Energie versorgt, so dass eine einzige Leitung je Gateway genügt. Industrielle Switche vom Typ Scalance XM400 leiten die Daten dann an den Locating Manager weiter.
Funkortung wird tauglich für die Industrie
Tatsächlich sind RTLS schon seit vielen Jahren im Markt verfügbar, doch die bisherigen Systeme waren oftmals aufwändig in der Installation, beschränkt in der Genauigkeit oder teuer. Die neuartige Ultrawide-Band-(UWB)-Technologie, die bei Simatic RTLS zum Einsatz kommt, überwindet diese Begrenzungen: Nun ist eine Ortungspräzision im Zentimeterbereich und die Erfassung von tausenden Transpondern in einer komplexen Fertigungsumgebung, zum Beispiel einer kompletten Halle, machbar. Auch die Lebensdauer der Transponder-Batterien konnte soweit verlängert werden, dass die Funktionsfähigkeit über Jahre sichergestellt ist. UWB-RTLS ist somit die richtige Balance aus Wartungsfreiheit, Präzision und Kosten, um den Anspruch an eine digitale Infrastruktur zu erfüllen.
Eine ausgeklügelte Software, der Locating Manager, übernimmt die Informationen der Gateways, berechnet die Koordinaten und übermittelt sie an die eigentlichen Zielsysteme, abhängig vom Typ des lokalisierten Objekts und der tatsächlichen Position. Um aber aus Koordinaten tatsächliche, produktionsrelevante Informationen zu gewinnen, ist eine weitere Software-Komponente notwendig. „Location Intelligence“, so der Name eines neuen Siemens-Angebots, verbindet die Lokalisierungsdaten aus Simatic RTLS mit den Business-Prozessen in der Fertigung, zum Beispiel den Material- und Auftragsdaten. Die Komponente bildet so das Bindeglied zwischen digitalem Zwilling und den realen Abläufen in der Fabrik.
Echtzeit-Informationen sind Gold wert
Für das Werk in Fürth sind präzise Ortsinformationen in Echtzeit Gold wert, denn jetzt können die Mitarbeiter zielgerichtet zu den Materialstapeln geführt werden – und zwar genau dann, wenn die Boxen auch eingetroffen sind. Fehlleistungen gehören damit der Vergangenheit an. Besonders praktisch ist dabei, dass die Location Intelligence auch mobile Geräte wie der Simatic ITP1000 – ein Tablet-Computer für industrielle Anwender – unterstützt. Statische Abläufe wurden damit endgültig abgelöst durch dynamische und mobile Strukturen.
Eine weitere Besonderheit von Simatic RTLS erweist sich in Fürth als besonders hilfreich. Der eingesetzte Transponder vom Typ RTLS4083T kann nicht nur geortet werden, sondern verfügt auch über eine LED, Taster und ein sogenanntes Paper-Ink-Display, das besonders stromsparend ist. Darüber kann nun eine interaktive Kommunikation zwischen System und Mitarbeitern stattfinden: Die Mitarbeiter werden über die blinkende LED zu der jeweils gesuchten Kiste geleitet, erhalten über das Display Informationen zu Inhalt und Status des Behälters, und können in künftig über die Taster zum Beispiel auch Aufträge quittieren. Damit verhilft die Ortung nicht nur zum Wegfall von unnötigen Suchzeiten, sondern macht auch die ausgedruckten Begleitpapiere überflüssig. Zudem wird die automatische Auslösung von bestimmten Prozessschritten durch das Erreichen einer definierten Position (Geo Fencing) manuelle Tätigkeiten ersetzen.
Return-on-Invest in weniger als zwei Jahren
Bereits diese Applikation – das Auffinden der Behälter durch die Mitarbeiter – bringt so hohe Einsparung, dass der Return-on-Invest (RoI) in weniger als zwei Jahren erreicht sein wird. Dabei gibt es noch weitere Anwendungsideen, die mit Simatic RTLS realisiert werden. Denn RTLS ist ähnlich wie Wireless LAN eine Infrastruktur, die für eine Vielzahl von Use Cases eingesetzt werden kann. Speziell in Fürth werden zwei weitere Szenarien analysiert.
Die eine Applikation beschäftigt sich mit der Routenplanung im Werk. Einerseits sind die Abläufe fest vorgegeben, aber andererseits erweisen sich Abweichungen in der Praxis als äußert sinnvoll. Um dieses Wissen aber in die Fabrikplanung einzubeziehen, sollen die tatsächlichen Wege sowie die Verweildauer der Behälter an einzelnen Stationen analysiert werden. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen dann in die laufende Optimierung der Produktionsabläufe ein.
Die zweite Anwendung betrifft die AGVs. Jedes dieser Fahrzeuge ist mit umfangreicher Sensorik zur Vermeidung von Kollisionen ausgestattet. Wenn sich nun die Wege zweier AGVs kreuzen, bleiben zunächst beide stehen und versuchen dann langsam aneinander vorbei zu fahren. Besser wäre es, wenn die Fahrzeuge über eine Leitzentrale gesteuert werden würden, die ein querendes AGV zum Beispiel stoppen würde, bis der Hauptweg frei ist, oder die eine alternative Route vorgeben würde. Dazu muss die Zentrale aber den Fahrtweg aller AGVs kennen, und laufend mit ihrer aktuellen Position abgleichen – eine Aufgabe, die perfekt über RTLS gelöst werden kann.
Simatic RTLS – Schlüssel für Produktivität und Flexibilität
Die Akzeptanz bei den Mitarbeitern ist jedenfalls hoch, weiß Sebastian Dietel, Projektleiter RTLS im Werk Fürth, zu berichten. Zum einen sind Simatic RTLS und Location Intelligence ein wichtiges Werkzeug geworden, um unproduktive Arbeitsschritte zu vermeiden. Die Mitarbeiter in der Montage können sich jetzt auf ihre eigentlichen Aufgaben fokussieren, ohne immer wieder nach Materialbehältern zu suchen. Zum anderen wurden die Funktionen und die Visualisierung nicht fertig eingekauft, sondern spezifisch an die Anforderungen der Fürther angepasst. Dabei haben auch die Mitarbeiter vor Ort die Möglichkeit, Feedback zu geben und Vorschläge zur Weiterentwicklung zu machen. Durch die agile Vorgehensweise im Projektteam werden diese Ideen dann Schritt für Schritt umgesetzt. Auch Werkleiter Lorenz Rappl bestätigt den Nutzen des Systems: „Mit Simatic RTLS können wir unsere digitale Transformation auf eine neue Ebene führen. Denn ein digitaler Zwilling ist nur dann etwas wert, wenn er zu 100 % mit den realen Vorgängen übereinstimmt“. Dann aber ergeben sich neue Möglichkeiten zur Analyse und Optimierung von Betriebsabläufen. „Die Echtzeit-Ortung von Simatic RTLS ist damit ein Schlüssel für höhere Produktivität und Flexibilität“, so Rappl.
Markus Weinländer


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