Die langen Wege der Produktion
Selbst in hochautomatisierten Fertigungen laufen interne Transporte oft noch per Hand ab: In vielen Werkshallen bestimmen bemannte Gabelstapler und Arbeiter, die Karren schieben oder Hubwagen ziehen, das Bild. Die Lohnkosten steigen jedoch stetig. Zudem sind viele intralogistische Abläufe mit ergonomisch ungünstigen Haltungen verbunden, die den Mitarbeitern auf Dauer schaden. Immer mehr Hersteller überdenken daher ihre Intralogistik. Der Trend geht zur vernetzten Fabrik, in der Fertigung und Logistik verschmelzen.
Ein integraler Bestandteil dieser Vernetzung sind autonome mobile Roboter (AMR). Sicher und flexibel bewegen sie sich ohne Schienen oder Magnetstreifen durch Werks- und Lagerhallen. Ihre Software lässt sich dabei problemlos in ERP-, MES- sowie WPS-Systeme integrieren. So kommt in der Produktion benötigtes Material stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort an. Gleichzeitig können sich Produktionsmitarbeiter höherwertigen Aufgaben widmen, statt beispielsweise Transportwägen über lange Distanzen zu schieben. Ob in KMU, großen Produktionshallen oder Distributionszentren: AMR vereinfachen Arbeitsabläufe von der Warenannahme bis zur Auslieferung.
Von der Warenannahme ins Lager
Die werksinterne Reise eines Produkts beginnt in der Warenannahme. Sämtliche Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, ebenso wie Equipment und Retouren, müssen hier zunächst sicher und effizient entladen, sortiert, inspiziert und auf den richtigen Weg geschickt werden. Meist kommen dafür Gabelstapler zum Einsatz, die das Material durch die gesamte Produktionsstätte transportieren. Sie bergen jedoch ein Risiko für Verletzungen und Schäden an Waren und Einrichtung.
Daher versuchen viele Unternehmen, ihren Einsatz auf gut einsehbare Bereiche mit wenig Personenverkehr zu beschränken. Hier finden AMR ihre erste Einsatzmöglichkeit: Sobald die Stapler einen eingehenden Versandbehälter abgestellt haben, übernehmen die Roboter. Sie transportieren, beispielsweise mit Palettenhebern, autonom Transportpaletten und selbst Güter mit einem Gewicht bis zu 1.000 kg an ihren Bestimmungsort. Dabei navigieren sie mithilfe von Sensoren, Kameras und intelligenter Software sicher auch durch stark frequentierte Bereiche.
Wie das funktioniert, zeigt der Großhändler ICM im dänischen Odense: Drei autonome Transportroboter „MiR1000“ von Mobile Industrial Robots (MiR) befördern Paletten von der Warenannahme zu den bis zu zwölf Meter hohen Regalgängen. Dort platzieren sie sie auf dem MiR-Pallet-Rack–Absteller, der der Roboter unterfahren kann, um Paletten abzuladen und aufzunehmen. Hochregalstapler nehmen die Palette anschließend auf und heben sie in die Regale.
„Die Fahrer der Hochregalstapler melden, wenn sie eine Palette vom Pallet Rack aufgenommen haben“, berichtet Jesper Lorenzen, Lagerassistent und verantwortlich für die Warenannahme bei ICM A/S. „Dann sende ich per Knopfdruck auf meinem Tablet einen Roboter auf den Weg, sodass sichergestellt ist, dass die Hochregalstapler immer mit Paletten versorgt sind.“ Mit der Automatisierung dieses Prozesses spart ICM 40 Stunden die Woche, die das erfahrene Logistikpersonal jetzt für komplexere Aufgaben nutzt.
Vom Lager in die Produktion
Aus dem Lager geht es in die Fertigung. AMR versorgen die Produktionslinien bedarfsgerecht mit Material. Vorbei sind die Zeiten, in denen Arbeiter vor dem Lager anstehen mussten, um benötigte Rohstoffe abzuholen. Gleichzeitig können sich Mitarbeiter in der Bestandsaufnahme ganz ihrer Aufgabe widmen, statt die Produktion zu beliefern.
Davon profitiert beispielsweise Argon Medical Devices, Hersteller chirurgischer Instrumente aus den USA. Im 85.000 Quadratmeter großen Werk bei Chicago transportierten Mitarbeiter täglich zahlreiche Rohmaterialien und fertige Produkte zwischen Produktion im Reinraum und Lager. Bei jedem Gang mussten sie Schutzkleidung ablegen beziehungsweise überziehen und verloren wertvolle Arbeitszeit. Jetzt erledigt ein reinraumtauglicher „MiR200“ die Transporte.
Jim Miller, Lagerleiter bei Argon Medical Devices, erklärt: „Seit wir den ‚MiR200‘ haben, arbeiten wir auftragsbezogen für die einzelnen Abteilungen und so wesentlich effizienter. Dadurch ist unsere Produktivität drastisch gestiegen.“ Nach Fertigstellung eines Teils für den Transport ins Lager rufen die Mitarbeiter einfach den mobilen Roboter. Durch den „MiR200“ hat Argon Medical die Personalressourcen einer Vollzeitkraft freigesetzt.
An der Montagelinie
In der Produktionshalle – meist stark frequentiert und eng – ist der Einsatz von Gabelstaplern besonders herausfordernd. Selbst Handschlepper sind da schwierig zu bewegen. AMR spielen dort ihre Stärken aus: Sie erkennen Hindernisse wie Gegenstände oder Mitarbeiter schon auf die Distanz und weichen ihnen rechtzeitig aus oder bremsen. Beim Fahren können die Roboter mit Licht- und Akustiksignalen oder einer programmierten Sprache situativ auf sich aufmerksam machen, damit Mitarbeiter sie trotz des Maschinenlärms hören und nicht versehentlich überrennen.
Die Roboter passen ihre Routen flexibel an Produktionslayout und -geschwindigkeit an. Sie sind zudem in On-Call-Systeme integrierbar: Bediener fordern Lieferungen und Abholungen nach Bedarf an, und das Material befindet sich immer genau zum richtigen Zeitpunkt dort, wo es gebraucht wird.
Diesen Vorteil nutzt Whirlpool: Am Standort Lodz hat der Weltmarktführer für Haushaltsgeräte mit drei AMR von MiR den internen Materialfluss automatisiert. Sie bringen Trocknertüren von der Vormontage zur Montagelinie. Ist eine Ladung Türen an der Vormontagelinie abholbereit, geben die Mitarbeiter den Robotern ein Signal.
Ein freier Roboter fährt dann selbständig dorthin, bewegt sich unter den beladenen Rollwagen und hakt sich mittels seines Aufsatzes daran fest. Dann fährt er zur Montagelinie und lädt die vollen Kisten ab. Durch ein Karakuri-System rutschen leere Kisten auf den Rollwagen nach, die der MiR-Roboter abtransportiert, bevor der Zyklus von neuem beginnt. All dies dauert vier Minuten. „Die mobilen Roboter erschließen uns einen ganz neuen Weg, Material ohne menschliches Zutun von A nach B zu bringen”, sagt Szymon Krupiński, Werksleiter am Standort Lodz. „So können sich unsere Mitarbeiter auf anspruchsvollere Aufgaben konzentrieren.”
Bewegungsfreiheit an der Montagelinie
Zu viel Material an den Fertigungslinien ist eine Gefahrenquelle und beansprucht Platz – wie beispielsweise bei TB Spain Injection (TBSI). Beim spanischen Automobilzulieferer versorgten früher zwei Gabelstapler die Produktionslinien mit Verpackungsmaterialien. Um einen ausreichenden Bestand sicherzustellen, stapelten sie oft mehr Paletten als nötig an den Maschinen. TBSI automatisierte den Warentransport daher mit zwei “MiR200“.
Automatisierte Regalaufsätze erlauben ihnen, Material eigenständig aufzunehmen und abzuladen. Braucht ein Mitarbeiter Nachschub, ruft er die Roboter über ein PDA-Gerät und erhält so immer die Menge an Material, die er benötigt. „Dank der freigewordenen Fläche konnten wir unseren Maschinenpark erweitern – von ursprünglich neun auf heute 15 Maschinen“, berichtet Manuel Canitrot, Leiter des Produktionsstandortes.
Regelmäßige Materialtransporte vereinfachen auch die Qualitätssicherung: Anstatt damit auf die Fertigstellung eines ganzen Produktionslaufs zu warten, bringen kleinere Roboter regelmäßig oder auf Abruf einzelne Produkte aus der laufenden Produktion zur Qualitätsprüfung. So werden mögliche Fehler schneller entdeckt, was den Ausschuss reduziert.
Fertigwarenlager, Müllentsorgung und Versand
Zu guter Letzt übernehmen AMR auch Transporte zwischen Endmontage und Fertigwarenlager sowie Versand, beispielsweise indem sie Produkte befördern, die zu schwer für Förderbänder sind. Zudem transportieren sie leere Paletten ab oder entsorgen Abfall.
Bei Stera Technologies, einem finnischen Auftragshersteller für elektromechanische Spezialanfertigungen, befördert zum Beispiel ein „MiR500“ doppelte Europaletten und Transportboxen mit einer Grundfläche von einem mal einem Meter durch das Werk von Turku.
Auf seinen Fahrten bringt er Bauteile an die Produktionslinien und fertige Produkte zurück ins Lager. Für Stera ist das erfolgreiche Projekt ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur digitalen Fabrik. „Auch andere Stera-Werke sollen von einer effizienteren Intralogistik durch die MiR500-Roboter profitieren“, so Jari Isatolo, Geschäftsführer des Werks in Turku. (jak)
Jan Kaulfuhs-Berger
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