„Hauptproblem ist die Bürokratie“
Jan Kaulfuhs-Berger: Es geht um Fachkräfte in Deutschland. Herr Günther, bitte eine kurze Bestandsaufnahme mit Blick auf Intralogistik.
Jens Günther: Um einmal ganz allgemein zu beginnen: Uns fehlen in Deutschland zwei Millionen Fachkräfte in allen Branchen, und das wird so weitergehen. Wenn man das auf die Branchen herunterbricht, gerade in der Logistik: Dort fehlen uns 10.000 Fernfahrer, und wir haben bei den Jobs im Lager ein richtiges Problem. Insbesondere wenn sich Logistikunternehmen, gerade in Bezug auf E-Commerce, so weiterentwickeln wie in den vergangenen Jahren.
Wo hakt es Ihrer Meinung nach am meisten?
Das Hauptproblem ist die Bürokratie! Bleiben wir einmal auf der Straße. Wir sind das einzige intelligente Land in Europa, das die Führerscheine bei Drittstaatlern nach sechs Monaten automatisch aberkennt. Das passiert nicht in Polen, nicht in Tschechien, den Niederlanden oder Belgien. Das heißt: Sechs Monate und einen Tag kann derjenige fahren. Dann wird der Führerschein aberkannt. Als Unternehmer geht man dann meistens Umwege über Polen, so dass man dort Niederlassungen gründet.
Dann dürfen die Fernfahrer sagen wir mit dem vietnamesischen Führerschein quer durch Europa fahren?
Ja, und nach sechs Monaten und einem Tag bekommen sie dann einen polnischen Führerschein. Und zwei Tage später können sie dann den polnischen in einen deutschen Führerschein umtauschen. Das ist völlig verrückt! Und damit haben wir in Deutschland dann kein Problem. Das machen wir nicht nur mit Fernfahrerpässen, also mit Lkw, sondern auch mit Pkw so.
Kehren wir zurück ins Lager. Wie sieht das Ganze bei den Berufsabschlüssen aus?
Bei Berufsabschlüssen ist das noch anders, da wir inzwischen seit über zehn Jahren ein deutsches System, das der dualen beruflichen Bildung, eingeführt haben. Zwar nicht in allen Berufen. Aber, wenn man beispielsweise sieht, dass Mercedes sämtliche Kfz-Elektroniker, Mechatroniker, Metallbauer für ganz Asien in Vietnam wegen der hohen Standards ausbilden lässt, weil das ein vergleichbarer Abschluss ist und die duale Ausbildung mit einigen Abstrichen auch hier anerkannt wird, hat das also Zukunft, von dort Leute zu holen.
Die Diskussion in der Branche, und deswegen führen wir das Gespräch, geht ja immer in Richtung Automatisierung, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken? Was ist Ihre Meinung hierzu?
Ich sehe die Automatisierung zwar als Hilfestellung. Sie wird, das können Ihre Leser ja auch sehr gut in Ihrem Blatt verfolgen, automatisch kommen, wenn ich das einmal so formulieren darf. Die Entwicklung schreitet in diesem Bereich ja sehr rasant voran. Es gibt hier in vielen Bundesländern auch entsprechende Investitionszulagen. Das ist überhaupt kein Thema. Als viel größeres Problem sehe ich die Digitalisierung, insbesondere mit Blick, ich sagte es gerade, auf die Bürokratie.
Können Sie das untermauern?
Ja, gern. Nur ein Beispiel: Wenn wir Leute aus Vietnam, Kolumbien oder Iran, völlig egal, hierherbringen und die Abschlüsse anerkennen, dann brauchen wir dafür teilweise zwischen acht und zwölf Monate. Und dazu kommt die Frage für den Unternehmer: Bin ich an der IHK angegliedert, wo ich lange Wartezeiten habe, weil das in Nürnberg zentralisiert ist. Oder bin ich bei einer lokalen Handwerkskammer, wo es vergleichsweise schnell geht, weil die das selbst entscheiden können. Und das ist das Problem mit der Bürokratie. Wenn die Arbeitgeber denken, sie können selbst Arbeitskräfte aus Drittstaaten organisieren, dann müssen sie einen Personalsachbearbeiter ganztags abstellen, um das hinzubekommen.
Könnte die fortschreitende Digitalisierung hier etwas helfen?
Man könnte auf den ersten Blick meinen: Ja. Aber das Problem steckt viel tiefer.
Wie tief?
Nun, vor allem die Antragstellung ist problematisch, weil sich die Visaabteilungen nicht mit den einzelnen Ausländerämtern abstimmen. Die müssten eigentlich zusammenarbeiten. Wir haben viele Fachkräfteagenturen, die in den einzelnen Ländern vom Innenministerium eingesetzt werden, die fachliche Vorgesetzte von den Ausländerämtern sind, oder auch vom Wirtschaftsministerium. Aber diese sind meistens nicht so gut ausgerüstet, dass sie selbst die Bürokratie dem Arbeitgeber erklären könnten. Deshalb gibt es viele spezialisierte Agenturen, weil es für den Arbeitgeber schlicht nicht möglich ist.
Die Leute hier besser ausbilden zu lassen – ist das ein Weg?
Bei zwei Millionen Stellen, die fehlen, haben wir nicht genügend Potenzial. Und Arbeitslose kommen – häufig - aus sogenannten Helferberufen. Wir brauchen aber Fachkräfte. Bei Fachkräften aus dem Ausland dauert eine solche Ausbildung in der Regel zu lange.
Wir hören heraus, es scheint eine Lösung zu sein, Fachkräfte aus dem Ausland heranzuholen. Wo findet man die, was sind die Wege dafür?
Wir müssen natürlich auch die Mentalitäten sehen. Da gibt es einen großen Unterschied zwischen Ost und West. Im Westen ist es normal, viele Nationalitäten dabei zu haben. Man kann auf die „Probierspur“ gehen, zum Beispiel mit Arbeitskräften aus Ländern wie Marokko oder Tunesien. Aber trotzdem ist die Arbeitsmoral in einem asiatischen Land in der Regel deutlich besser.
In der Regel heißt?
Natürlich gibt es dort auch Unterschiede, wenn wir zum Beispiel in den Norden gehen, nach Usbekistan, Tadschikistan. Da liegen noch einmal Welten dazwischen im Vergleich zu Vietnam, Kambodscha oder Philippinen. Übrigens auch was die Ausbildungsstandards betrifft.
Stichwort Vietnam: Weil zu DDR-Zeiten viel Entwicklungshilfe in dieses Land ging und viele Vietnamesen hier ausgebildet wurden und gearbeitet haben?
Ja, sicher. Es sind 86.000 Vietnamesen jedes Jahr in der DDR zur Ausbildung gewesen. Diese Leute haben dort heute noch einen hohen Standard. Das Land Vietnam hat sich entwickelt von 80 Millionen auf 100 Millionen Menschen. 60 Prozent sind unter 30 Jahre und demzufolge ist es wie bei uns: ein Drittel geht in die Wirtschaft zur Ausbildung, ein Drittel ins Studium und für ein Drittel hat man nichts. Um das Einparteiensystem nicht zu gefährden, schickt man sie lieber zur Ausbildung ins Ausland.
Mit Erfolg?
Ja, natürlich. Und nicht nur für die jeweilige Person, sondern auch für die Familie. Wenn ein Familienvater 350 Euro im Monat nach Hause bringt und der Jugendliche, der hier eine Ausbildung macht und dann auch für immer hierbleiben kann, 350 Euro von seinem Facharbeitergehalt später nach Hause schickt, ist das Einkommen der Familien verdoppelt und auch deswegen bleiben die Menschen hier. Das ist eine Riesenchance. Viele Arbeitskräfte aus anderen Ländern wie Spanien oder Kolumbien gehen dagegen nach einiger Zeit wieder zurück.
Akadia Power, Ihr Unternehmen, hat sich ja auf Vietnam spezialisiert. Wenn Sie hier noch einmal in die Tiefe gehen können.
Wir müssen an der Stelle zwischen Facharbeiterniveau und Azubi-Bewerbern unterscheiden. Und fragen, wie das Curriculum aussieht. Das ist in Vietnam sehr gut. Dort sind einige Handwerkskammern einiger Bundesländer direkt vertreten, die noch zusätzlich die Ausbildung begleiten. Wenn ich also hier ein Anerkennungsverfahren mache, bekomme ich relativ schnell einen Defizitbescheid.
Das bedeutet?
Das bedeutet 85 bis 90 Prozent Anerkennung, und die Facharbeiter müssen gegebenenfalls nur ein paar Anpassungskurse machen, um hier dem Facharbeiterniveau zu entsprechen. Anders sieht es aus, wenn wir ins Bachelor- und Masterniveau gehen. Es ist immer wieder erstaunlich, dass der Vorreiter hier Iran ist. Auch wenn man das nicht so gerne hört, aber die Menschen kommen schon mit C1-Fachsprachenprüfung hierher, haben ein Top-Niveau und sind sehr zuverlässig. Aber die Menschen dort wollen eben auch das Land verlassen.
Wie findet man als mittelständisches Logistikunternehmen dieses Personal?
Große Unternehmen, lassen Sie mich bitte damit beginnen, also Unternehmen wie Amazon, Mercedes oder auch große Kliniken, die sind vor Ort alle mit eigenen Büros vertreten, beispielsweise in Vietnam, um im Beispiel zu bleiben …
… da sie sich das Personalmanagement leisten können.
Richtig. Der kleine Arbeitgeber kann das nicht. Ich sage immer, 95 Prozent aller Firmen in Deutschland haben von einem bis 50 Mitarbeiter. Und wenn dort drei Elektriker gebraucht werden, kann das Unternehmen nicht selbst auf die Suche gehen und dorthin fliegen. Und selbst wenn, funktioniert das dann von der Bürokratie her nicht. Deshalb sage ich immer: Wenn man diesen Schritt gehen möchte, dann bitte eine spezialisierte Agentur in Anspruch nehmen, Fördermittel in den einzelnen Bundesländern anschauen und fragen: Wo bekommt man Unterstützung her? Wo bekommt man wie viele Zuschüsse? Da gibt es tolle Programme beispielsweise im Bundesland Sachsen, wo ich herkomme. Hier gibt es bis zu 8.000 Euro Zuschuss, in Sachsen-Anhalt 5.600 Euro und in Thüringen 4.000 Euro. Um nur ein paar Beispiele in Deutschland aufzuzählen. Das ist in anderen Bundesländern ähnlich geregelt.
Mit wieviel Zeit muss der Unternehmer rechnen?
In Kooperation mit einer spezialisierten Agentur kann man Fachkräfte zwischen drei und fünf Monaten bekommen. Bei Azubis sind das sogar nur sechs, sieben Wochen. Das werden Sie zuhause nicht schaffen.
Was kostet das pro Person?
So wie die Personalbranche in Deutschland aufgestellt ist, werden zwischen drei bis fünf Brutto-Monatsgehälter verlangt. Die können auch bis zu einem Jahr gestreckt werden. Das kann man verhandeln. Beim Thema Azubis ist noch wichtig zu sagen, Sie werden dort zwischen 3.000 und 6.000 Euro liegen. Das ist der Normaltarif.
Schwarze Schafe gibt es aber auch in Ihrer Branche, nehmen wir an?
Ja, ich warne vor kostenlosen pauschalen Angeboten von, sagen wir, 1.000 Euro. Das ist Menschenhandel! Da wird von den Eltern, egal wo in der Welt, verlangt, teilweise fünfstellige Summen aufzubringen, was zwangsläufig zur Verschuldung der Familien führt. Und nur, damit der deutsche Arbeitgeber nichts bezahlen muss. Das sollte man unterlassen.
Herr Günther, vielen Dank für das Gespräch!
Jan Kaulfuhs-Berger
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