Doppeltes Lottchen fürs Lager
Doch lassen sich komplexe Logistikanlagen zum jetzigen Zeitpunkt bereits digital in einem einzigen Modell so nachbilden, dass sie zur Visualisierung, Planung, Simulation, zum Softwaretest, zur Mitarbeiterschulung, als Leitstand und zur Betriebsunterstützung dienen können? Die ehrliche Antwort laute nein, sagt Michael Huhn, Vertriebsleiter und Prokurist der Unitechnik Systems GmbH.
Die Erstellung eines umfassenden digitalen Zwillings für eine individuelle Industrieanlage sei zurzeit wirtschaftlich nicht vertretbar. Für einzelne Projektphasen gäbe es jedoch bereits gute Ansätze. Andere Branchen sind dagegen schon viel weiter. Für die Baubranche steht beispielsweise das BIM (Building Information Modelling) zur Verfügung. Selbst bei hochkomplexen Bauprojekten fließen hier alle Informationen aus verschiedenen Gewerken zusammen. Dennoch wird der digitale Zwilling in der Logistikpraxis im Rahmen der heutigen Möglichkeiten erfolgreich eingesetzt: Systemintegrator Unitechnik setzt auf mehrere Spezialzwillinge statt einem Alleskönner und nutzt verschiedene Modellvarianten während der Planung und Realisierung einer Logistikanlage.
Virtual Reality Modell für die Planungsphase
Zunächst erfolgt über ein CAD-Programm die Konstruktion des Logistiksystems, bestehend aus Lager, Fördertechnik, Arbeitsplätzen und Maschinen. Wenn die Planung einen gewissen Reifegrad hat, lohnt es sich, die CAD-Zeichnung in ein VR-Modell zu überführen. Dadurch erhält der Kunde einen realitätsnahen und räumlichen Eindruck von der Logistikanlage. Er steht virtuell in seiner neuen Halle und kann diese begehen, statt von außen auf ein theoretisches Lagerlayout zu schauen.
In einem zweiten Schritt lassen sich Förderer in Bewegung setzen und Arbeitsplätze interaktiv gestalten. In der virtuellen Lagerumgebung können beispielsweise die zukünftigen Kommissionierplätze realitätsnah und interaktiv dargestellt werden. „Das Virtual-Reality-Modell ermöglicht es uns, für den Kunden via VR-Brille den geplanten Lageraufbau erlebbar zu machen“, erläutert Huhn.
Mitarbeiter können ihren zukünftigen Arbeitsplatz ausprobieren und wertvolle Hinweise für dessen Optimierung geben. Durch den Einsatz des digitalen Zwillings lassen sich Gefahrenpotentiale für die Mitarbeiter frühzeitig ausschließen, und die Ergonomie ihrer Arbeitsplätze lässt sich verbessern.
Im nächsten Planungsschritt lässt sich die Leistungsfähigkeit eines Entwurfs überprüfen. Das ermöglicht die Simulation der Anlage. Dabei ist das Aussehen der geplanten Anlage zweitrangig. Die Darstellung ist meist sehr rudimentär, bzw. schematisch. Die entscheidende Frage ist vielmehr:
Wie lange braucht ein Ladungsträger von A nach B?
Die Szenarien werden mithilfe der Simulation für alle möglichen Start- und Endpunkte entlang der Materialflusskette getestet. Dann wird das Modell mit einem angenommenen Auftragsmix versorgt. So kann die Leistungsfähigkeit eines Layouts gemessen werden. Erkannte Engpässe können bereits in der Planungsphase korrigiert werden.
Emulator als Testumgebung für die Softwareentwicklung
Sobald das grundlegende Layout der Anlage steht und die Gewerke ausgewählt sind, wird mit der Emulation begonnen, um den Programmierern bereits vor der physischen Montage ein Testszenario zur Verfügung zu stellen. So kann die Software bereits in einem frühen Projektstadium geschrieben und die Steuerung ohne Maschine und Fördertechnik geprüft werden – inklusive Änderungen an der Software, ohne die reale Anlage zu belasten.
Das genaue Aussehen der Anlage ist dabei ebenfalls nebensächlich. Um die Steuerungssoftware zu testen, muss jeder Sensor und jeder Motor im Modell abgebildet sein. Die Steuerungssoftware erweckt den Emulator quasi zum Leben. Ist das Modell steuerungstechnisch fertig, können auch Materialflussrechner und Lagerverwaltungssystem mit dem Modell getestet werden. Am Ende bilden der Emulator, die Steuerungssoftware und die IT-Systeme einen perfekten funktionalen digitalen Zwilling. Er verhält sich genauso wie die reale Anlage.
Indem der digitale Zwilling verschiedenste Szenarien in umfangreichen Vorabtests visualisiert, werden letztendlich Risiken wie Produktionsausfälle oder Anlagenstillstände minimiert. Testweise erhält das System beispielsweise vom Lagerverwaltungssystem einen Fahrauftrag. Im virtuellen Logistikzentrum fährt daraufhin das Regalbediengerät (RBG) los und holt die Ware. Die Fördertechnik bewegt die Palette in Richtung Kommissionierplatz.
Neben dem Materialfluss simuliert der Emulator sogar das Verhalten der Menschen, die an der Anlage arbeiten. Über die Visualisierung am Bildschirm kann der Beobachter diese Bewegungen live nachvollziehen. „Das ist so, als ob man durch ein Fenster in die reale Anlage blickt“, verdeutlicht Michael Huhn das Erscheinungsbild. Optimierungen an der Programmierung lassen sich so vor der realen Inbetriebnahme umsetzen.
In Zeiten zunehmender Automatisierung und wachsender Komplexität der Logistikanlagen sind Vorabtests ein wichtiger Faktor, der für Planungssicherheit und die Verkürzung der Realisierungsphase in sämtlichen Prozessen sorgt. „Besondere Relevanz hat das Thema für den Umbau und die Modernisierung von bestehenden Anlagen“, resümiert Unitechnik-Vertriebsleiter Huhn. Der Einsatz einer Emulation ermöglicht es, selbst komplexe Anlagen an einem verlängerten Wochenende umzustellen.
Digitaler Zwilling zur Schulung von Mitarbeitern
Für neue Kommissionierer bietet die virtuelle Animation der Arbeitsplätze aus der Vertriebs- und Planungsphase eine gelungene Trainingsplattform. Erst nach dem Training mit der VR-Brille geht es ins reale Lager. In diese Umgebung lassen sich die realen Bedienmasken des Lagerverwaltungssystems integrieren. Da nur ein kleiner Teil der Anlage nachgebildet wird, ist die Komplexität beherrschbar.
Im Anschluss an die physische Fertigstellung und die reelle Inbetriebnahme hat der digitale Zwilling jedoch noch nicht ausgedient. Im Leitstand liefert das Modell beispielsweise Vergleichswerte zum Echtbetrieb der Anlage. Auch die Anlagenvisualisierung lässt sich als digitaler Spezialzwilling einordnen. Schematisch wird die gesamte Anlage in Echtzeit dargestellt.
Ziel ist es, den Platz auf dem Bildschirm gut auszunutzen und eine gute Orientierung innerhalb der Anlage zu bieten. Bei einer stufenlos zoombaren Anlagenvisualisierung, wie Unitechnik sie für „Uniware“ entwickelt hat, werden zudem immer mehr Details eingeblendet, je weiter der Nutzer in das Modell reinzoomt. Auf Basis dieses Echtzeitmodells lassen sich Störungen schnell eingrenzen und auch rückwirkend noch nachvollziehen. Auch eine Änderung der Betriebsparameter können über die Emulation ausprobiert werden – dies kann dabei helfen, die Anlage effizienter zu betreiben.
Bei Bedarf lassen sich Abläufe in Echtzeit testen oder beschleunigen, ohne dass in den laufenden Echtbetrieb eingegriffen werden muss. Bei Anlagenerweiterungen können die Auswirkungen auf den Materialfluss und die Kennzahlen geprüft werden. Falls mehrere Alternativen zur Auswahl stehen, liefert der digitale Zwilling eine belastbare Entscheidungshilfe.
Auch im Servicebereich eröffnen die Techniken zukünftig vielfache Möglichkeiten: Über Augmented Reality können dem Instandhaltungsmitarbeiter Zusatzhinweise zu bestimmten Komponenten eingeblendet werden. Zusätzliche Sensoren können Daten wie Temperatur und Schwingung erfassen. Die Auswertung dieser Daten kann Anomalien aufdecken und damit den Verschleiß eines Bauteils erkennen, bevor es ausfällt – Stichwort Predictive Maintenance.
Fazit und Ausblick
Für die Planung, Realisierung und den Betrieb von Logistikzentren bringen die Spezialzwillinge bereits hohen Mehrwert. Dennoch sind diese Modelle heute häufig Unikate, welche speziell für die einzelne Anlage erstellt werden. Andere Projektbeteiligte haben keine Möglichkeit sich anzukoppeln. Damit sich dies in der Logistik ändert, sind unternehmensübergreifende Standards erforderlich.
„Die gute Nachricht ist: es gibt bereits Standards, nämlich ‚AutomationML‘ als Datenformat für Anlagenplanungsdaten und OPC UA als Standard für den Datenaustausch. Die schlechte Nachricht ist, sie finden noch keine flächendeckende Anwendung. Solange nicht alle Maschinen der beteiligten Gewerke mittels OPC UA kommunizieren und die Produkteigenschaften der Anlagenteile mittels ‚AutomationML‘ definiert sind, bleibt der allgemeingültige digitale Zwilling erstmal eine Vision“, erläutert Michael Huhn. (jak)
Auch im Servicebereich eröffnen die Techniken zukünftig vielfache Möglichkeiten. Dem Instandhaltungsmitarbeiter werden Zusatzhinweise zu bestimmten Komponenten eingeblendet. Zusätzliche Sensoren erfassen Daten wie Temperatur und Schwingung. Die Auswertung dieser Daten deckt Anomalien auf und erkennt den Verschleiß eines Bauteils, bevor es ausfällt – Stichwort Predictive Maintenance.
Jan Kaulfuhs-Berger
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